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Dan Brown
Diabolus
Lübbe Verlag
524 Seiten
ISBN 3-7857-2194-3
Erschienen 21.02.2005
EUR
19,90
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Inhalt
Die kryptographische Abteilung des
US-Geheimdienstes NSA verfügt über einen geheimen Super-Computer, der
in der Lage ist, innerhalb kürzester Zeit jeden Code (und somit jede
verschlüsselte Botschaft) zu knacken. Der Rechner kommt zum Einsatz,
wenn Terroristen, Drogenhändler und andere Kriminelle ihre Pläne
mittels codierter Texte verschleiern und die Sicherheit der USA auf dem
Spiel steht. In der Vergangenheit konnten die Kryptographen täglich
hunderte von Codes knacken ? bis zu dem Tage, als Diabolus zum Einsatz
kommt: Ein mysteriöses Programm, das den Super-Rechner offenbar
überfordert. Der Entwickler des Programms droht, Diabolus der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Würde dieses Programm zum
Verschlüsselungs-Standard werden, wäre der erfolgreichen
Verbrechensbekämpfung der NSA über Nacht die Basis entzogen. Die
Mitarbeiter des Geheimdienstes setzen alle Hebel in Bewegung, das
drohende Desaster zu verhindern ?
Autor
Dan Brown,
Sohn eines Mathematikprofessors und einer Musikerin, arbeitete als Englischlehrer, bevor er mit dem Roman Illuminati weltweit für Aufsehen sorgte. Mit seinen Romanen, die durch ihre Mischung aus Action, Wissenschaft und Geschichte bestechen, beherrscht er seither die internationalen Bestsellerlisten. Im Jahr 2004 wurden seine beiden Titel "Sakrileg" und "Illuminati" die Jahresbestseller in der Kategorie Hardcover und TAschenbuch!
Leseprobe
Diabolus
Prolog
plaza de españa sevilla, spanien 11.00 Uhr
Es heißt, dass sich im Tode alles klärt. Ensei Tankado wusste jetzt, dass
die Redensart stimmte. Im Fallen, die Hände an die schmerzende Brust
gepresst, erkannte er seinen schrecklichen Fehler. Besorgte
Menschen tauchten in seinem Gesichtsfeld auf, beugten sich über ihn,
bemühten sich, ihm zu helfen. Aber Ensei Tankado wollte keine Hilfe – dafür war es jetzt zu spät. Bebend hob er die linke Hand und streckte die Finger aus. Schaut auf meine Hand! Neugierige Blicke trafen ihn, doch er spürte, dass ihn keiner verstand. An
seinem Finger steckte ein gravierter goldener Ring. Die Schriftzeichen
blitzten in der andalusischen Sonne. Es war das letzte Licht, das Ensei
Tankado in seinem Leben sah.
Kapitel 1
Sie
waren in den Smoky Mountains und lagen in einem Himmelbett ihrer
Lieblingspension. David lächelte. „Was meinst du, Liebling? Würdest du
mich heiraten?“ Sie blickte zu ihm hoch
und wusste, dass er der Richtige war. Für immer und ewig. Während sie
in seine tiefgrünen Augen schaute, erhob sich irgendwo in der Ferne ein
nervtötendes Gebimmel. Er strebte von ihr fort. Sie streckte die Arme
nach ihm aus und griff ins Leere. Das
Geklingel des Telefons riss Susan Fletcher endgültig aus ihrem Traum.
Sie holte tief Luft, setzte sich auf und tastete nach dem Hörer.
„Hallo?“ „Susan, hier ist David. Habe ich dich geweckt?“ Sie
lächelte und drehte sich auf die Seite. „Ich habe gerade von dir
geträumt. Komm rüber! Lass uns ein paar hübsche Sachen miteinander
machen.“ Er lachte. „Draußen ist’s noch dunkel.“ „Hmmm.“ Sie stöhnte verführerisch. „Dann musst du erst recht rüberkommen. Bevor wir losfahren, ist noch genug Zeit zum Ausschlafen.“ David stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Wegen der geplanten Fahrt rufe ich ja an! Wir müssen sie leider verschieben.“ Susan war mit einem Schlag hellwach. „Wie bitte?“ „Es
tut mir Leid, aber ich muss verreisen. Morgen bin ich wieder da. Wenn
wir uns gleich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg machen, haben wir
immer noch zwei ganze Tage für uns.“ „Aber ich habe doch schon alles reserviert“, sagte Susan eingeschnappt. „Unser altes Zimmer im Stone Manor!“ „Ich weiß, aber…“ „Der heutige Abend sollte doch ein ganz besonderer Abend werden – zur Feier unserer ersten sechs Monate. Hast du schon vergessen, dass wir verlobt sind?“ Er
seufzte. „Susan, ich kann dir jetzt nicht alles erklären. Draußen
wartet ein Wagen auf mich. Ich rufe dich vom Flieger aus an und erkläre
dir alles.“ „Vom Flieger aus?“, wiederholte sie ungläubig. „Was ist denn los? Wie kommt die Universität dazu, dich …?“ „Es
hat mit der Uni nichts zu tun. Ich rufe dich später nochmal an und
erkläre dir alles. Jetzt muss ich wirklich los, man ruft schon nach
mir. Ich melde mich, versprochen!“ „David!“, schrie sie. „Was soll …?“ Aber David hatte schon eingehängt. Sie lag noch stundenlang wach und wartete auf den Anruf. Doch das Telefon blieb stumm.
Susan
Fletcher saß trübsinnig in der Badewanne. Es war Nachmittag geworden.
Sie tauchte im Seifenwasser unter und versuchte, sich Stone Manor und
die Smoky Mountains aus dem Kopf zu schlagen. Wo steckt er nur? Warum meldet er sich nicht? Das
heiße Wasser wurde allmählich lau und schließlich kalt. Sie hatte sich
gerade entschlossen, aus der Wanne zu steigen, als ihr schnurloses
Telefon summte. Susan schoss hoch und griff nach dem Hörer, den sie auf
dem Waschbeckenrand abgelegt hatte. Wasser platschte auf den Boden.
„David?“ „Hier spricht Strathmore“, meldete sich eine Stimme. Ernüchtert sank Susan zurück. „Ach, Sie sind’s.“ Es gelang ihr nicht, die Enttäuschung zu verbergen. „Guten Tag, Commander.“ „Sie hatten wohl mit dem Anruf eines Jüngeren gerechnet?“ Die Stimme klang amüsiert. „Keineswegs, Sir.“ Die Situation war Susan peinlich. „Ich möchte nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht …“ „Schon passiert.“ Strathmore lachte. „David Becker ist ein prima Kerl. Den sollten Sie sich warm halten.“ „Ja, Sir.“ Die Stimme des Commanders wurde unversehens ernst. „Susan, ich melde mich, weil ich Sie hier im Laden brauche. Pronto.“ Susan versuchte, sich einen Reim auf den Anruf zu machen. „Es ist Samstagnachmittag, Sir. Normalerweise haben wir …“ „Weiß ich“, sagte Strathmore ruhig. „Aber es handelt sich um einen Notfall.“ Susan saß senkrecht in der Wanne. Ein Notfall? Sie hatte dieses Wort noch nie über Commander Strathmores Lippen kommen hören. Ein Notfall? In der Crypto? Es war absolut unvorstellbar. „Ja. Ich komme, so schnell ich kann.“ „Kommen Sie ruhig ein bisschen schneller!“, sagte Strathmore und legte auf.
Als Susan sich ins Badetuch hüllte, fielen Tropfen auf die fein säuberlich
zusammengefalteten Kleidungsstücke, die sie am Abend zuvor herausgelegt
hatte –
Shorts zum Wandern, einen Pullover für die kühlen Abende in den Bergen
und die Dessous, die sie extra gekauft hatte. Niedergeschlagen ging sie
zum Schrank und holte eine saubere Bluse und einen Rock heraus. Ein Notfall in der Crypto? Auf der Treppe fragte sie sich, ob der Tag eigentlich noch beschissener werden könnte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Kapitel 2
Neuntausend
Meter über einem spiegelglatten Ozean starrte David Becker bedrückt aus
dem kleinen ovalen Fenster des Learjet 60. Das Bordtelefon sei gestört,
hatte man ihm gesagt – und damit war der Anruf bei Susan gestorben.
Was tust du hier eigentlich?, fragte er sich ? aber die Antwort lag auf der Hand. Es gab eben Leute, denen man so leicht nichts abschlagen konnte. ?Mr Becker??, knisterte es aus dem Bordlautsprecher. ?Wir landen in einer halben Stunde.? Großartig!
Er nickte der unsichtbaren Stimme trübsinnig zu, zog die Jalousie
herunter und versuchte, noch ein Nickerchen zu machen. Doch seine
Gedanken kreisten um Susan.
Kapitel 3
Vor
dem drei Meter hohen und von Stacheldrahtrollen gekrönten Stahlzaun
ließ Susan den Wagen ausrollen. Der junge Wachmann trat an ihren Volvo
und legte gebieterisch die Hand
aufs Autodach. ?Ihren Ausweis, bitte.? Susan
tat wie ihr geheißen und machte sich auf die halbminütige Wartezeit
gefasst. Der Wachbeamte zog ihre Ausweiskarte durch das elektronische
Lesesystem. Schließlich sah er auf. ?Danke, Miss Fletcher.? Auf sein kaum wahrnehmbares Nicken schwang das Tor auf. Einen
knappen Kilometer weiter unterzog sich Susan an einem nicht minder
abweisenden elektrisch gesicherten Zaun der gleichen Prozedur noch
einmal. Nun macht schon, Jungs. Ihr habt mich hier ja erst ein paar Tausend Mal durchkomplimentiert!
Sie fuhr am letzten Kontrollpunkt vor. Ein untersetzter Wachmann mit
zwei scharfen Hunden und einer Maschinenpistole schaute auf ihr
Nummernschild und winkte sie durch. Sie fuhr knapp zweihundertfünfzig
Meter auf der Canine Road weiter und bog in den Personalparkplatz C. Nicht zu fassen, dachte sie. Sechsundzwanzigtausend
Mitarbeiter und ein Etat von zwölf Milliarden Dollar, aber sie schaffen
es nicht, ein einziges Wochenende lang ohne dich zurechtzukommen? Mit einem kurzen Tritt aufs Gaspedal ließ sie den Wagen auf ihren reservierten Parkplatz rollen und stellte den Motor ab. Nachdem
sie den Grünstreifen überquert hatte, betrat sie das Hauptgebäude,
passierte zwei weitere Sicherheitskontrollen und gelangte schließlich
an den fensterlosen Durchgang, der zu dem neuen Gebäude hinüberführte.
Auf einem Hinweisschild stand zu lesen:
National Security Agency (NSA) Crypto-Abteilung Für Unbefugte kein Zutritt
Eine
Kabine mit einem digitalen Stimmerkennungssystem versperrte den Zugang.
Der bewaffnete Wachposten blickte auf. ?Tag, Miss Fletcher.? Susan lächelte matt. ?Hallo, John.? ?Ich habe heute gar nicht mit Ihnen gerechnet.? ?Ich
auch nicht.? Sie beugte sich zu dem im Brennpunkt einer kleinen
Parabolschüssel angebrachten Mikrofon. ?Susan Fletcher?, sagte sie klar
und deutlich. Der Computer bestätigte das Frequenzspektrum ihrer
Stimme, und die Sperrschranke sprang klickend auf. Der
Wachmann bedachte Susan mit einem bewundernden Blick. Er bemerkte, dass
ihre ansonsten so fest dreinblickenden Augen etwas abwesend wirkten,
aber ihre Wangen hatten eine rosige Frische, und ihr schulterlanges
kastanienbraunes Haar wirkte frisch geföhnt. Ein zarter Duft von
Johnson?s Babypuder umwehte sie. Der Blick des Wachmanns glitt an ihrem
schlanken Oberkörper herab, registrierte den BH unter ihrer weißen
Bluse, den knielangen Khakirock und schließlich die Beine? Susan
Fletchers Beine. Kaum zu glauben, dass auf diesen Beinen ein IQ von 170 herumläuft,
sinnierte er, während er Susan auf ihrem Weg durch die Betonröhre
hinterherstarrte, bis sie in der Ferne verschwunden war. Mit einem
ungläubigen Kopfschütteln riss er sich von dem Anblick los. Als
Susan das Ende des Tunnels erreicht hatte, blockierte eine kreisrunde
Portalscheibe ihren Weg, auf der in gewaltigen Lettern crypto
angeschrieben stand. Seufzend streckte sie
die Hand nach dem in die Wand eingelassenen Tastenfeld aus und gab ihre
pin-Nummer ein. Sofort setzte sich die zwölf Tonnen schwere stählerne
Türscheibe in Bewegung. Susan versuchte, sich auf die Gegenwart zu
konzentrieren, aber ihre Gedanken glitten zurück zu David. David
Becker. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Als jüngster
Inhaber einer Vollprofessur an der Georgetown Universität und
Spezialist für Fremdsprachen war er in der akademischen Welt kein
Unbekannter mehr. Mit seinem angeborenen fotografischen Gedächtnis und
seiner Sprachbegabung hatte er sechs asiatische Idiome mühelos zu
beherrschen gelernt, dazu noch Spanisch, Französisch und Italienisch.
Seine mit Sachkunde und Begeisterung vorgetragenen Etymologie- und
Linguistikvorlesungen waren stets überfüllt, wobei er sich hinterher
noch weit über das Ende der Veranstaltung hinaus unverdrossen dem
Kreuzfeuer der Fragen zu stellen pflegte. Die bewundernden Blicke der
weiblichen Hörerschaft schienen ihm völlig zu entgehen. Becker
war ein eher dunkler, jugendlicher Typ von fünfunddreißig Jahren mit
scharf blickenden grünen Augen und nicht minder scharfem Intellekt.
Sein markantes Kinn und die straffen Gesichtszüge erinnerten Susan
immer an eine antike Marmorstatue. Ungeachtet seiner Größe von weit
über eins achtzig flitzte Becker mit einer seinen Kollegen
unbegreiflichen Behändigkeit über den Squashcourt. Wenn er dem Gegner
eine solide Niederlage verpasst hatte, pflegte er zur Abkühlung den
Kopf in einen Trinkwasserspender zu halten, bis das Wasser aus seinem
dichten schwarzen Haarschopf troff, um sodann dem geschlagenen Gegner
einen Fruchtshake und einen Bagel auszugeben. Wie
alle Jungakademiker bezog auch David Becker kein besonders üppiges
Dozentengehalt. Wenn wieder einmal der Mitgliedsbeitrag zum Squash-Club
fällig war oder sein alter Dunlopschläger eine neue Bespannung mit
Natursaiten nötig hatte, pflegte er von Zeit zu Zeit sein Gehalt mit
Übersetzungsaufträgen für die Regierungsbehörden in und um Washington
aufzubessern. Bei einem dieser Gelegenheitsjobs war er Susan begegnet. Als
er in den vergangenen Herbstferien an einem frischen Oktobermorgen von
seiner regelmäßigen Joggingrunde in sein Dreizimmer-Apartment auf dem
Universitätsgelände zurückgekehrt war, hatte der Anrufbeantworter
geblinkt. Während er sich den üblichen Liter Orangensaft einverleibte,
hatte er den Anruf abgehört. Die Botschaft unterschied sich in nichts
von den zahlreichen früheren Anrufen ?
eine Regierungsbehörde wollte ihn für eine Übersetzungsarbeit im
späteren Verlauf des Vormittags ein paar Stunden engagieren. Das einzig
Auffallende war, dass Becker noch nie etwas von dieser Behörde gehört
hatte. ?Der Verein heißt National Security Agency?, erläuterte Becker den Kollegen, die er Rat suchend angerufen hatte. Die Antwort war stets die gleiche gewesen. ?Du meinst wohl den National Security Council, den Nationalen Sicherheitsrat?? Becker hatte sicherheitshalber den Anruf noch einmal abgehört. ?Nein, sie haben sich mit National Security Agency gemeldet.? ?Noch nie was davon gehört!? Becker
hatte im Verzeichnis der Regierungsbehörden nachgesehen, aber auch dort
war die NSA nicht aufgeführt. Schließlich hatte er einen alten
Squash-Kumpel angerufen, einen früheren Politikwissenschaftler, der
inzwischen eine Stelle bei der Forschungsabteilung der
Kongressbibliothek innehatte. Die Ausführungen seines Bekannten hatten
ihn ziemlich erschüttert. Nicht nur, dass
es die NSA tatsächlich gab, sie war sogar eine der einflussreichsten
staatlichen Organisationen der Welt und hatte seitmehr als einem
halben Jahrhundert auf elektronischem Wege nachrichtendienstliche
Erkenntnisse gesammelt und gleichzeitig das geheimdienstliche Material
der USA vor fremder Spionage geschützt. Lediglich zwei Prozent der
amerikanischen Bevölkerung wussten, dass es diese Behörde überhaupt gab. ?NSA?, witzelte der Freund, ?ist die Abkürzung von ?niemand soll?s ahnen?.? Mit
einer Mischung aus Neugier und Unbehagen hatte Becker den Auftrag der
mysteriösen Behörde angenommen. Er war gut fünfzig Kilometer weit zu
dem überdreieinhalbtausend Hektar großen NSA-Hauptquartier
hinausgefahren, das sich diskret in den bewaldeten Hügeln von Fort
Meade in Maryland verbarg. Nach schier endlosen Sicherheitskontrollen
hatte man ihm einen auf sechs Stunden ausgestellten holographischen
Besucherausweis ausgehändigt und ihn in eine üppig ausgestattete
Forschungseinrichtung geführt. Dort wurde ihm eröffnet, die
Kryptographen ? ein Eliteteam von mathemathischen Genies, die sich salopp Codeknacker nannten ? bräuchten ihn in den kommenden Mittagsstunden für eine ?blinde Zuarbeit?. Während
der ersten Stunde schienen sie Beckers Anwesenheit nicht einmal
wahrzunehmen. Um einen riesigen Tisch geschart, unterhielten sie sich
in einem Becker völlig fremden Vokabular über Datenstromchiffren, selbstdezimierende Geber, Rucksackvariablen, Blindprotokolle und Eindeutigkeitspunkte.
Becker spitzte die Ohren und verstand gar nichts. Man kritzelte Symbole
auf Millimeterpapier, brütete über Computerausdrucken und deutete immer
wieder auf das von einem Overheadprojektor an die Wand geworfene
Textgewirr:
JHDJA3JKHDHMADO/ERTWTJLW+JGJ328 5JHALSFNHKHHHFAF0HHDFGAF/FJ37WE OHI93450S9DJFD2H/HHRTYFHLF89303 95JSPJF2J0890IHJ98YHFI080EWRT03 JOJR845H0ROQ+JT0EU4TQEFQE//OUJW 08UY0IH0934JTPWFIAJER09QU4JR9GU IVJP$DUW4H95PE8RTUGVJW3P4E/IKKC MFFUERHFGV0Q394IKJRMG+UNHVS9OER IRK/0956Y7U0POIKI0JP9F8760QWERQI
Irgendwann wurde Becker mitgeteilt, was er sich ohnehin schon längst gedacht hatte: Das Textgewirr war ein Code ?
ein verschlüsselter Text aus Zahlen und Buchstabengruppen, die für
verschlüsselte Wörter standen. Die Kryptographen sollten den Code
analysieren und die ursprüngliche Botschaft ? den ?Klartext? ?
wiederherstellen. Da man annahm, dass die ursprüngliche Botschaft in
Mandarin-Chinesisch abgefasst war, hatte man Becker herbeigerufen, um
die von den Kryptographen entzifferten Schriftzeichen ins Englische zu
übertragen. Zwei Stunden lang übersetzte
Becker eine endlose Reihe von Mandarin-Schriftzeichen, aber die
Kryptographen schüttelten jedes Mal entmutigt den Kopf und konnten
offenbar keinen Sinn erkennen. Um den Leuten zu helfen, erklärte Becker
schließlich, dass alle ihm bisher vorgelegten Schriftzeichen eines
gemeinsam hätten ?
sie würden auch in der japanischen Kanji-Schrift benutzt. Schlagartig
wurde es still. Der Leiter der Gruppe, ein schlaksiger Kettenraucher
namens Moranti, sah Becker konsterniert an. ?Sie meinen, diese Schriftzeichen können zweierlei bedeuten?? Becker
nickte. Er erläuterte, Kanji sei ein japanisches Zeichensystem, das mit
modifizierten chinesischen Schriftzeichen arbeite. Er habe allerdings
auftragsgemäß bisher immer nur ins Mandarin-Chinesisch übersetzt. ?Ach du lieber Gott!?, schniefte Moranti. ?Dann wollen wir es doch mal mit Kanji versuchen.? Wie durch ein Wunder fiel auf einmal alles wie von selbst an seinen Platz. Die Kryptographen waren tief beeindruckt ?
was sie jedoch keineswegs dazu veranlasste, Becker die Schriftzeichen
in der richtigen Reihenfolge vorzulegen. ?Zu Ihrer eigenen Sicherheit?,
erläuterte Moranti. ?Auf diese Weise wissen Sie nicht, was Sie für uns
übersetzen.? Becker lachte, aber außer ihm lachte keiner. Als
der Code komplett entschlüsselt war, hatte Becker keine Ahnung, welche
dunklen Geheimnisse er ans Tageslicht zu fördern geholfen hatte, aber
eines war gewiss ?
die NSA betrieb das Dechiffrieren nicht zum Spaß. Der Scheck in seiner
Tasche war jedenfalls mehr wert als das Monatsgehalt eines
Universitätsprofessors. Auf dem Rückweg
durch den Raster der Sicherheitskontrollen verstellte ihm im Hauptflur
ein Wachmann, der soeben das Telefon aufgelegt hatte, den Weg. ?Mr
Becker, bitte warten Sie hier einen Augenblick.? ?Gibt
es ein Problem?? Becker hatte nicht damit gerechnet, dass der Auftrag
so lange dauern würde. Für sein regelmäßiges Squash-Match am
Samstagnachmittag war er schon ziemlich spät dran. Der
Wachmann zuckte die Schultern. ?Die Abteilungsleiterin der Crypto
möchte Sie sprechen. Sie geht gerade nach Hause und ist schon
unterwegs.? ?Eine Frau??, wunderte sich Becker und grinste. Bei der NSA war ihm bislang noch keine Frau begegnet. ?Haben Sie damit ein Problem??, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm. Becker
drehte sich um. Er spürte das Blut jäh in seine Wangen schießen. Er
starrte auf den an die Bluse der Frau gehefteten Hausausweis. Die
Chefin der kryptographischen Abteilung war zweifellos eine Frau, und
eine attraktive obendrein. ?Nein?, stammelte Becker, ?ich habe nur ?? ?Susan Fletcher?, stellte sich die Abteilungsleiterin lächelnd vor und streckte ihm eine schlanke Hand entgegen. Becker nahm sie in die seine. ?David Becker.? ?Meinen
Glückwunsch, Mr Becker. Man hat mir von Ihrer beachtlichen Leistung
berichtet. Ich würde mich mit Ihnen gern ein bisschen darüber
unterhalten.? Becker zögerte. ?Um ehrlich zu sein, ich habe es im Moment leider etwas eilig.? Er
hoffte, dass es keine allzu große Dummheit war, einer leitenden
Mitarbeiterin der mächtigsten Geheimdienstbehörde der Welt einen Korb
zu geben, aber sein Squash-Match sollte in einer Dreiviertelstunde
losgehen, und er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Zum Squash
kam David Becker niemals zu spät ? zur Vorlesung vielleicht, aber zum Squash? Niemals! ?Es wird nicht lange dauern?, sagte Susan Fletcher lächelnd. ?Wenn Sie mir bitte folgen wollen ??? Fünf
Minuten später saß Becker im Kasino der NSA der NSA-Chefkryptographin
Susan Fletcher gegenüber und ließ sich einen Eierpfannkuchen mit
Preiselbeersoße schmecken. Schnell wurde ihm klar, dass die
Achtunddreißigjährige ihre hohe Stellung keineswegs irgendwelchen
Kungeleien verdankte ? sie war eine der intelligentesten Frauen, die er je kennen gelernt hatte. Becker bekam bei der Unterhaltung über Codes und Dechiffriermethoden die größten Schwierigkeiten, ihr zu folgen ? für ihn eine völlig neue und durchaus anregende Erfahrung. Eine Stunde später ?
Becker hatte unwiderruflich sein Squash-Match verpasst, und Susan
Fletcher hatte dreimal ohne mit der Wimper zu zucken ihren piepsenden
Pager ignoriert ?
mussten sie beide lachen. Da saßen sie nun, zwei hochgradig analytisch
geschulte Köpfe, mit ihrer vor sich hergetragenen Immunität gegen die
Anfechtungen des Irrationalen, aber irgendwie, während sie sich über
linguistische Morphologie und die Fallstricke von Zufallsgeneratoren
unterhielten, kamen sie sich vor wie zwei turtelnde Teenager. Susan
kam die ganze Zeit nicht dazu, David Becker den eigentlichen Grund zu
nennen, weshalb sie ihn hatte sprechen wollen: um ihm eine
Probeanstellung in der Abteilung für asiatische Kryptographie
anzubieten. Bei der Begeisterung, mit der der junge Professor über
seinen Lehrberuf sprach, war ohnehin klar, dass er der Universität
nicht den Rücken kehren würde. Susan wollte die unbeschwerte Atmosphäre
nicht verderben, indem sie das Gespräch auf Berufliches lenkte. Nichts
sollte die schöne Stimmung trüben. Und nichts trübte sie.
Das
gegenseitige Näherkommen verlief langsam und romantisch, mit
verstohlenen Ausbrüchen aus der Tagesroutine, wann immer ihre knapp
bemessene Freizeit es zuließ, mit langen Spaziergängen auf dem Campus
der Georgetown Universität, einem nächtlichen Cappuccino bei Merlutti
und gelegentlichen Besuchen von Vorträgen und Konzerten. Susan
bemerkte, dass sie mehr lachte, als sie es jemals für möglich gehalten
hatte. Es gab anscheinend nichts, dem David nicht eine witzige Seite
abzugewinnen vermochte. Sie genoss es als willkommene Abwechslung von
der Beanspruchung, die ihr verantwortungsvoller Posten bei der NSA mit
sich brachte. An einem kühlen
Herbstnachmittag saßen sie auf den Rängen des Fußballstadions und
schauten zu, wie die Kicker von Rutgers die Mannschaft von Georgetown
fertig machten. ?Was für einen Sport treibst du noch mal? Zucchini??, neckte Susan. David stöhnte auf. ?Man nennt es Squash.? Susan sah ihn verständnislos an. ?Es geht wie Zucchini, nur das Spielfeld ist etwas kleiner?, erläuterte David. Susan boxte ihn in die Seite. Der linke Verteidiger von Georgetown vergab einen Eckball. Die Menge buhte. Die Verteidiger rannten zurück in die eigene Hälfte. ?Und du??, erkundigte sich David. ?Was für einen Sport treibst du eigentlich?? ?Ich bin Weltmeisterin auf dem Hometrainer.? David wand sich in gespieltem Abscheu. ?Mir sind Sportarten lieber, bei denen man auch gewinnen kann.? Susan grinste ihn an. ?Du bist wohl ein Streber.? Der
Starverteidiger von Georgetown stoppte einen gegnerischen Querpass.
Jubel erklang von der Tribüne. Susan beugte sich zu David. ?Doktor?,
flüsterte sie ihm ins Ohr. David sah sie verständnislos an. ?Doktor?, wiederholte Susan. ?Du musst mit dem ersten Wort antworten, das dir spontan in den Sinn kommt.? David sah sie skeptisch an. ?Ein Wortassoziationstest?? ?Standardprozedur bei der NSA. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe.? Sie sah ihn bedeutungsvoll an. ?Also: ?Doktor?.? David hob die Achseln. ?Doolittle.? Susan runzelte die Stirn. ?Okay, dann versuch?s mal hiermit: ?Küche?.? ?Schlafzimmer?, kam es wie aus der Pistole geschossen. Susan hob leicht pikiert die Brauen. ?Na gut. Und wie steht?s damit: ?Natur?.? ?Darm?, sagte David postwendend. ?Darm?? ?Na klar. Naturdarm. Die Schlägerbespannung der Squash-Cracks.? ?Ach, wie entzückend?, mokierte sich Susan. ?Und wie lautet nun deine Diagnose?? Susan dachte kurz nach. ?Du bist ein kindischer, sexuell frustrierter Squash-Fan.? ?Könnte hinkommen?, meinte David.
In
diesem Stil ging es wochenlang weiter. Wenn sie in einem der vielen
nachts geöffneten Schnellrestaurants beim Nachtisch saßen, pflegte
David Susan Löcher in den Bauch zu fragen. Wo hatte sie Mathematik studiert? Wie war sie an den Job bei der NSA gekommen? Wie kam es, dass sie so anziehend war? Susan
wurde rot und räumte ein, dass sie eine Spätentwicklerin sei. Während
ihrer ganzen Teenagerzeit war sie ungelenk und dürr gewesen und hatte
eine Zahnspange getragen. Ihre Tante Clara hatte einmal gesagt, zum
Trost für ihre Unansehnlichkeit hätte ihr der liebe Gott einen schlauen
Kopf gegeben. Ein voreiliger Trost, dachte David. Susan
erzählte ihm, dass ihr Interesse an der Kryptographie in der Junior
High School erwacht war. Der Leiter des Computerclubs, ein riesiger
Achtklässler namens Frank Gutmann, hatte ein Liebesgedicht für sie
abgetippt und mit einer numerischen Verschiebechiffre verschlüsselt.
Susan hatte ihn angebettelt, ihr zu verraten, was da stand, aber Frank
hatte sich geweigert. Darauf hatte sie das Werk nach Hause mitgenommen
und die ganze Nacht unter der Bettdecke beim Schein einer Taschenlampe
daran herumgeknobelt, bis das Geheimnis gelüftet war. Jede Ziffer stand
für einen Buchstaben. Sorgfältig entschlüsselte sie den Text und
erlebte das Wunder, wie ein scheinbar zufälliges Zahlengewirr sich wie
durch Hexerei in wundervolle Poesie verwandelte. In dieser Nacht hatte
sie ihre Berufung entdeckt ? Kryptographie und Verschlüsselungssysteme sollten ihr Lebensinhalt werden. Zwanzig
Jahre später, sie hatte an der Johns Hopkins Universität ihr
Mathematikdiplom gemacht und MIT einem Stipendium des mit Zahlentheorie
als Hauptfach studiert, legte sie ihre Doktorarbeit vor: Kryptographische Methoden, Protokolle und Algorithmen für manuelle Anwendungen.
Offenbar war ihr Professor nicht der Einzige, der ihre Arbeit gelesen
hatte, denn kurz darauf erhielt Susan einen Anruf und ein Flugticket
von der NSA. Wer sich mit Kryptographie
beschäftigte, kannte auch die NSA, denn bei dieser Behörde arbeiteten
die besten Kryptographen der Welt. Wenn sich die Privatwirtschaft jeden
Frühling mit geradezu obszönen Gehaltsangeboten und Aktienoptionen auf
die besten Köpfe der Studienabgänger stürzte, pflegte die NSA
sorgfältig das Getümmel zu beobachten, sich ihre Schäfchen auszusuchen
und schließlich mit dem Doppelten des höchsten Gebots auf den Plan zu
treten. Wenn die NSA etwas haben wollte, kaufte sie es eben. Vor
Aufregung bibbernd war Susan nach Washington geflogen, wo ein Wagen der
NSA sie am Dulles Airport erwartet und nach Fort Meade verfrachtet
hatte. Außer Susan hatten in jenem Jahr
einundvierzig weitere Bewerber den besagten Anruf erhalten. Susan war
mit ihren achtundzwanzig Jahren die jüngste und obendrein die einzige
weibliche Bewerberin gewesen. Die Sache erwies sich weniger als eine
Informationsplattform, sondern zu weitaus größeren Teilen als
PR-Veranstaltung mit einem intensiven Beiprogramm von Intelligenztests.
Susan und sechs weitere Kandidaten wurden in den folgenden Wochen noch
einmal eingeladen. Susan hatte zwar Bedenken, ging aber trotzdem hin.
Die Bewerber wurden sofort voneinander getrennt und mussten sich
Lügendetektor-Tests, Hintergrundbefragungen, graphologischen Analysen
und nicht enden wollenden Interviews unterziehen, wobei die auf
Tonträger dokumentierten Befragungen auch die sexuelle Orientierung und
die sexuellen Praktiken nicht ausließen. Als der Interviewer Susan
fragte, ob sie schon einmal Geschlechtsverkehr mit Tieren gehabt hätte,
war sie drauf und dran gewesen, aufzustehen und zu gehen. Aber das
Geheimnisvolle der ganzen Veranstaltung und die Aussicht, an der
vordersten Front der kryptographischen Theorie mitmischen zu können,
einen Arbeitsplatz im ?Rätsel-Palast? zu beziehen und Mitglied des
exklusivsten Clubs der Welt zu werden ? der National Security Agency ?, ließen sie auch diese Situation irgendwie überstehen. David
Becker war von ihren Erzählungen vollkommen fasziniert. ?Sie haben dich
tatsächlich gefragt, ob du schon einmal Geschlechtsverkehr mit einem
Tier gehabt hättest?? Susan hob hilflos die Schultern. ?Es gehört eben zum Background-Check.? ?Und ??, David versuchte ein Grinsen zu unterdrücken, ?was hast du geantwortet?? Sie trat ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein. ?Nein, natürlich! Und bis letzte Nacht hat das auch gestimmt!?
David hätte Susans Idealvorstellung von einem Mann nicht besser entsprechen können ?
bis auf eine unglückliche Eigenart. Wenn sie miteinander ausgingen,
bestand er notorisch darauf, die Rechnung zu begleichen. Susan litt
darunter, dass er für ein Dinner bei Kerzenschein einen ganzen
Tagesverdienst hinblättern musste, doch David war unerbittlich. Susan
gewöhnte sich an, auf Proteste zu verzichten, aber es störte sie
dennoch. Das Bezahlen wäre eigentlich deine Sache, tadelte sie sich selbst. Schließlich kriegst du jeden Monat mehr Geld aufs Konto, als du ausgeben kannst. Wie
auch immer, ungeachtet seiner altmodischen Kavaliersvorstellungen war
David für Susan der ideale Mann. Er war einfühlsam, klug, lustig, und
vor allem, er interessierte sich aufrichtig für ihre Arbeit. Ob bei den
Besuchen des Smithonian Institute, beim Radfahren oder beim
Zerkochenlassen der Spaghetti in Susans Küche, seine Neugier ließ nie
nach. Susan beantwortete seine Fragen nach bestem Vermögen und gab
David Einblick in die National Security Agency ? soweit es ihre Pflicht zur Geheimhaltung zuließ. David war fasziniert von dem, was er da zu hören bekam. Seit
über fünfzig Jahren war die am vierten November 1952 um zwölf Uhr eins
von Präsident Truman gegründete National Security Agency der
mysteriöseste Nachrichtendienst der Welt. Die auf sieben Seiten
niedergelegte ursprüngliche Doktrin der NSA gab ein klar umrissenes
Aufgabengebiet vor: den umfassenden Schutz von sämtlichen hoheitlichen
US-amerikanischen Kommunikationskanälen und deren Inhalten sowie das
möglichst vollständige Abfangen der Kommunikationen fremder Mächte. Das
Dach des NSA-Hauptgebäudes war mit über fünfhundert Antennen
bepflastert, darunter auch zwei voluminöse Antennenkuppeln, die wie
zwei riesige Golfbälle wirkten. Die Dimensionen des Gebäudes selbst
waren ebenfalls gigantisch. Mit seinen über 185 000 Quadratmetern
Nutzfläche war es zweimal so groß wie das Hauptquartier der CIA. An die
2 440 Kilometer Kommunikationsleitungen waren in seinem Inneren
verlegt, die Fläche der versiegelten Fenster betrug zigtausend
Quadratmeter. Susan berichtete David von COMINT, der global arbeitenden Erkundungsabteilung der NSA ?
mit einem jede Vorstellung sprengenden Arsenal von Satelliten,
Abhöranlagen, angezapften Leitungen und Agenten in aller Welt. Tag für
Tag wurden Tausende von Kommunikees und Gesprächen abgefangen und den
Analysten der NSA zugeleitet. Die Entscheidungsfindung des FBI, der CIA
und der außenpolitischen Berater der US-Regierung stützte sich zu
wesentlichen Teilen auf die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der
NSA. David Becker war völlig von den Socken. ?Und das Dechiffrieren? Wo kommt deine Arbeit ins Bild?? Susan
erläuterte, dass häufig Nachrichten von Regierungen feindlich gesinnter
Länder, von gegnerischen Gruppierungen und terroristischen
Organisationen, die in zahlreichen Fällen sogar in den USA selbst tätig
waren, abgefangen wurden. Die Absender sandten in der Regel
verschlüsselte Botschaften ?
falls ihre Nachricht in die falschen Hände geraten sollte, was dank
COMINT in der Regel auch geschah. Wie Susan erläuterte, hatte sie
die Aufgabe, den jeweiligen Code zu knacken und die dechiffrierte
Botschaft in die Kanäle der NSA zu leiten ? eine Darstellung, die
allerdings nicht ganz stimmte. Susan kam
sich mies vor, weil sie ihren Geliebten belügen musste, aber etwas
anderes blieb ihr gar nicht übrig. Vor ein paar Jahren noch wäre diese
Version einigermaßen zutreffend gewesen, aber inzwischen wehte bei der
NSA ein anderer Wind. Die Welt der Kryptographie hatte sich grundlegend
geändert. In Susans Aufgabengebiet herrschte strengste Geheimhaltung,
selbst gegenüber zahlreichen Inhabern höchster Machtpositionen. ?Wenn
du nun so einen verschlüsselten Text vor dir hast?, wollte David
wissen, ?wie weißt du denn, wo du anfangen musst? Ich meine ? wie
kommst du dem Code bei?? Susan lächelte.
?Also, wenn überhaupt jemand, dann müsstest du das doch wissen. Es ist
wie das Erlernen einer Fremdsprache. Anfangs sieht man nur lauter
unverständliches Zeug, aber wenn man allmählich in die Struktur und
Regeln des Textes eindringt, gibt er immer mehr von seiner Bedeutung
preis.? David nickte beeindruckt. Er wollte noch mehr erfahren. Unter
Benutzung der Servietten ihres Lieblings-Italieners und so mancher
Konzertprogramme machte Susan sich daran, ihrem charmanten neuen
Schüler eine Einführung in die Kryptographie zu geben. Sie begann mit
dem Caesar-Code. Julius Caesar, erläuterte
sie, war unter anderem auch der Erfinder eines Kodierungssystems
gewesen. Als seine Boten überfallen und ihnen die geheimen Botschaften
entrissen wurden, überlegte er sich eine rudimentäre Methode zum
Verschlüsseln seiner Befehle. Zuerst zerlegte er den Text seiner
Botschaft nach einem bestimmten System, wodurch er sinnlos wirkte, was
er natürlich nicht war. Die Zahl der Buchstaben, aus denen Caesar eine
Botschaft zusammensetzte, entsprach dabei stets einer vollen
Quadratzahl, also zum Beispiel sechzehn, fünfundzwanzig oder
einhundert, je nachdem, wie viel Text er zu übermitteln hatte. Seine
Offiziere wussten, dass sie beim Eintreffen einer unverständlichen
Mitteilung die Buchstaben von links nach rechts in ein quadratisches
Gitter einzutragen hatten. Wenn sie nun die Buchstabenkolonnen von oben
nach unten lasen, erschien auf einmal der zuvor unlesbare geheime Text.
Im Lauf der Zeit übernahmen auch andere
die von Caesar entwickelte Methode der Neuanordnung von Texten und
modifizierten sie in einer weniger leicht durchschaubaren Weise. Der
absolute Höhepunkt der nicht computergestützten
Verschlüsselungsverfahren wurde im Zweiten Weltkrieg erreicht, als die
Nazis eine Verschlüsselungsmaschine namens Enigma bauten. Dieser
Apparat bestand aus riesigen ineinander greifenden Walzen, die sich auf
raffinierte Weise gegeneinander verdrehten und den Klartext in
verwirrende und scheinbar völlig sinnlose Zeichengruppen zerlegten, die
nur mit einer zweiten Enigma-Maschine wieder in die richtige
Reihenfolge gebracht werden konnten. David Becker hörte wie gebannt zu. Der Lehrer war zum Schüler geworden. Eines
Abends gab Susan ihm während einer Aufführung der ?Nussknacker-Suite?
zum ersten Mal einen einfachen Code zu knacken. Während der ganzen
Pause
rätselte er mit dem Kugelschreiber in der Hand an den zwölf
Buchstaben der Botschaft herum:
hbg khdad chbg
Als
vor der zweiten Konzerthälfte die Lichter verlöschten, hatte er es
geschafft. Susan hatte einfach die Buchstaben ihrer Botschaft gegen den
jeweils vorangehenden des Alphabets ausgetauscht. Zur Entschlüsselung
musste man lediglich jeden Buchstaben der Botschaft eine Position des
Alphabets weiter rücken ?
aus A wurde B, aus B wurde C und so weiter. Schnell setzte David auch
noch die restlichen Buchstaben an ihren richtigen Platz. Er hätte nie
gedacht, dass ihn drei Wörter so glücklich machen könnten:
ich liebe dich
Eilends schrieb er seine Antwort nieder und hielt sie Susan hin.
hbg chbg ztbg
Susan las und strahlte. David
Becker musste lachen. Er war fünfunddreißig Jahre alt, und sein Herz
schlug Purzelbäume. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so intensiv
zu einer Frau hingezogen gefühlt. Ihre feinen Gesichtszüge und ihre
sanften braunen Augen erinnerten ihn an eine Kosmetikreklame von Estée
Lauder. Susan mochte zur Teenagerzeit ungelenk und dürr gewesen sein,
jetzt war sie es weiß Gott nicht mehr. Irgendwann hatte sie eine
gazellenhafte Grazie entwickelt. Sie war groß und schlank, mit festen
vollen Brüsten und einem wunderbar flachen Bauch. David witzelte oft,
ihm sei noch nie ein Model für Bademoden mit einem Doktortitel in
Zahlentheorie und angewandter Mathematik über den Weg gelaufen. Die
Monate gingen ins Land, und bei beiden verdichtete sich der Verdacht,
dass sie es recht gut ein Leben lang miteinander würden aushalten
können. Sie waren schon fast zwei Jahre
zusammen, als David bei einem Wochenendausflug in die Smoky Mountains
Susan aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag machte. Sie lagen in
Stone Manor in einem großen Himmelbett. David hatte noch nicht einmal
einen Ring dabei. Er platzte einfach so damit heraus. Das war es, was
Susan so sehr an ihm liebte ? seine Spontaneität. Er zog ihr das Negligee von den Schultern und schlang die Arme um sie. Sie küsste ihn lang und innig. ?Ich werte das als ein Ja?, hatte er gesagt. In der behaglichen Wärme des Kaminfeuers hatten sie sich die ganze Nacht geliebt. Diese
magische Nacht war nun sechs Monate her. Inzwischen hatte man David
überraschend zum Leiter des Instituts für Moderne Sprachen berufen. Seitdem ging es mit ihrer Beziehung unaufhaltsam bergab.
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